Märchen

Sie wußte nun, wo das Sonnenstäubchen zu finden war, und alle anderen wussten es auch – nur der Oberelf überlegte noch angestrengt, aber er war trotzdem ein ausgezeichneter Oberelf, und Tautropfen formen und aufhängen konnte im ganzen Elfenreich keiner besser als er!

Leon, dessen Fuß nun wieder dick und olchig geworden war und ihm schlimme Schmerzen machte, freute sich so, daß er aufsprang und auf seinem gesunden Fuß eine Pirouette drehte, um die der Oberelf ihn hätte beneiden können. Dabei zog er Lia, die noch immer seine Hand hielt, einfach mit, und so wirbelten sie über die kleine Lichtung, aber nur einen Augenblick, denn Leon, der Elfenprinz mit dem Olchsfuss, wußte, daß ihm noch Schweres bevorstand. Und so setzte er sich wieder auf seinen Pilz, neben sich die goldhändige, federhaarige, spinnwebzarte Lia und war ganz still.

Inzwischen war die Zwölfte mit dem Mausekönig zur Stadt geflogen, zum Fluß und zu dem großen Haus, Städel genannt, wo ein Bild hängen mußte mit einem leuchtend goldenen Brunnen. Der Mausekönig zeigte der Zwölften den Zugang zum Keller, den es immer noch gab, und dann schwebten sie, zwei silberne Gestalten, durch die großen, einsamen Säle, bis sie einen goldenen Schein sahen, der aus einem der Seitenkabinette drang. Und da war das „Paradiesgärtlein“, und sogar der Mausekönig sah nun nicht mehr nur ein Brett bestrichen mit Leinöl, Harz und Farbe. Das machte der Feenstaub. Die Zwölfte aber ging in das Gärtlein hinein, denn das konnte sie, verneigte sich tief vor der Königin im blauen Mantel, die zu wissen schien, warum die Zwölfte gekommen war und hold lächelnd von ihrem Buch aufschaute: „Nimm alles, was du brauchst.“ Und da trat die Zwölfte auf den Rahmen hinaus, das Bild schloss sich, und sie strich mit ihren Elfenfingern über den Brunnen und sammelte alle die leuchtenden Goldstäubchen ein, mit denen das Wasser übermalt war, aber den goldenen Schöpflöffel und die Krone berührte sie nicht. Sie verwahrte die Sonnenstäubchen, denn das waren sie, in einer Schale aus Mondstein, verneigte sich noch einmal vor der Königin, deren Krone hell glänzte, verabschiedete sich von dem Mausekönig und flog, schneller als ein Gedanke, zu ihrer Buche, um das Sonnenbrot zu backen. Der Mausekönig blieb noch eine Weile vor dem Bild sitzen und sah es sich an. In dem Brunnen war jetzt klares Wasser, wenn es auch immer noch einen leichten Goldschimmer hatte, und so würde es bleiben. Der Mausekönig fiepte leise, und das klang wie ein Seufzen, und dann huschte er davon und beschloss, ein Gesetz zu erlassen, das es den Mäusen bei schwerer Strafe untersagte, künftig im Städel an irgendetwas zu knabbern. Und zufrieden begab er sich in sein Mäuseschloss.

Die Fee aber, die Zwölfte, die Zauberin, mischte nun den Sonnenstaub in der Mondsteischale mit duftenden Ölen und luftigen Essenzen, mit Blütenstaub von Rosen und Honig von vierblättrigem Klee und formte daraus ein großes Brot, das durch die Sonnenwärme ganz von selbst aufging und buk und alsbald duftend und golden leuchtend in ihren Händen lag. Das alles brauchte nicht mehr Zeit als ein Wimpernschlag, und schon stand sie wieder auf der Insel im Maunzenweiher und sah Leon, den Pirouettendreher, der sich gerade hingesetzt hatte und still geworden war, ernst an. Dann reichte sie ihm eine Krume von dem Sonnenbrot.

Alle hielten den Atem an. Leon nahm die Krume in den Mund, sie schmeckte seltsam süß und würzig und löste sich auf in einen Duft, der ganz unbeschreiblich war und warm durch seinen ganzen Körper wehte, durch alle Glieder, bis in die Fußspitzen, der ihm das Herz weit machte und ihn in einen hellen Schein einzuhüllen schien. Er hörte die Musik der Sterne und konnte alle Wesen sehen, die unsichtbar zwischen Erde und Himmel schweben, und ihm war, als sei die Erde aus Glas, und er sah die Gold- und Silberadern, die ihren Leib durchziehen, die Edelsteine und Kristalle, die ihn erleuchten und das große Feuer, das ihr Innerstes erwärmt – und die Olche, die von ihren schwarzen Gedanken gefesselt waren wie von schweren Ketten, und er konnte ihre Schreie hören, denn sie hatten das Licht nicht ganz vergessen und die Erinnerung daran war wie ein unerträglicher Schmerz.

Die Ratsleute hatten um den Blauelfen einen Kreis gebildet. Vor ihren Augen löste er sich auf und schien eine Flamme zu werden, und dann verdichtete sich die Flamme, zog sich zu einer Gestalt zusammen, und da stand Leon mit seinen blauen Locken, stand auf zwei zarten Elfenfüßen, gesund und froh, da stand der Wanderer, der Mondstrahlrutscher und schien derselbe wie vor dem Olchsbiß, stand da und lachte und schaute alle an mit goldschimmernden Augen, die doch so blau gewesen waren wie das Wasser der Quelle, an der er auf die Welt gekommen war. Er war ein Sonnenelf geworden!

„Wir müssen uns beeilen“ war das erste, was er sagte. „Die Olche leiden große Schmerzen, wenn sie an das Licht denken, das zu sehen ihnen für immer verwehrt ist. Deshalb hassen sie es und wollen es auslöschen. Sie haben angefangen, an den Wurzeln der Bäume zu nagen, damit die sterben. Sie vergiften die Erde, damit nichts mehr wächst. Sie schicken ihre schwarzen Gedanken zu den Menschen, damit die immer mehr schwarze Straßen bauen, immer höhere Häuser, damit ihnen ein Goldstück schöner scheint als eine Blume, damit sie lernen, sich gegenseitig zu hassen und damit sie nie mehr lachen und alles vergessen, was lebendig und wirklich schön ist, damit sie vergessen, daß sie die Erde schützen sollten und alles, was lebt. Heute versammeln sich die Olche in den Kanälen unter dieser Stadt. Ich habe sie gesehen. Beeilen wir uns!“

Die Zwölfte war indessen zu dem Ort gegangen, wo Leon vor gar nicht so langer Zeit so unglücklich hingeplumpst war ( aber vielleicht war das ja ein Glück! ) und wo immer noch der gelähmte Olch steckte mit dem Mondstrahl im Maul. Die Zwölfte brach wieder eine Krume von ihrem Sonnenbrot und ließ sie in den Olchsrachen fallen. Ein schwarzer Wirbelwind kam daraus hervor, die Kiefer klappten zusammen, die ganze Insel fing an zu beben, die Erde rund um den Olch brach auf, der sich nun mit einem schrecklichen Schrei aufblähte wie ein Ballon und schließlich platzte. Die Olchshautfetzen verbrannten zu Asche, aber aus den Flammen und dem Rauch trat ein Elf mit weißem Haar und goldenen Augen, nur seine Elfenhaut war dunkelbraun, wie verbrannt von der Sonne. „Bin ich endlich aufgewacht aus diesem schrecklichen Traum, Mutter?“ Er sah sich um, sah alle die Waldwesen, die erschrocken und ernst um ihn versammelt waren und ahnte, daß er nicht geträumt hatte. „Beeilen wir uns!“ sagte auch er, der nun auch ein Sonnenelf war. „Ich weiß, was zu tun ist. Aber wir müssen schnell sein. Sie dürfen nicht erfahren, was hier geschehen ist. Sie sind stark. Sie sind böse. Sie sind viele.

Aber heute trinken sie den Trank des Vergessens, dazu hat der Oberolch alle in seinen Palast befohlen. Nur wenige Olchwachen sind aufgestellt, denn in Frankfurt fühlen die Olche sich sicher. Ich war eine von 13 Wachen, aufgestellt im Kreis um die Stadt. 12 sind noch an ihrem Platz. Sie müssen als erste geheilt werden. Dann gibt es noch einen Ring von 7 mal 13 Wachen um den Palast, der tief unter dem großen Bahnhofsgebäude liegt, alte Gewölbe, die kein Mensch kennt.“ Und dann flüsterte er etwas, und alle Insekten flogen davon, so schnell sie konnten, die Kreuzspinne webte eilig weiter an ihrem Netz, das Zwergenweiblein huschte unter seine Wurzel, der Oberelf schleppte die große Tauschale herbei, der Hase hoppelte in den Wald, der Fuchs verschwand wie ein roter Blitz, der Hirsch sprang ins Dickicht, und man hörte nicht einmal das Knacken von einem Ast, Katz und Maus waren gemeinsam aufgebrochen, Uhu und Waldkauz strichen durch die Bäume.

Als erstes kam das Zwergenweiblein wieder und brachte zwei Leuchtkristalle, die sie der Zwölften vor die Füße legte.

In alter Zeit haben die Zwerge Kristalle um Mondstrahlen herumwachsen lassen, die durch ganz feine Bergritzen in die Kristallgärten geleitet wurden, und haben so das Licht im Herzen der Kristalle gefangen. Heute sind Leuchtkristalle selten und sehr kostbar, denn im ganzen Zwergenreich gibt es nur noch einen Kristallgärtner, der – in einer einzigen Vollmondnacht, alle 330 Jahre – solche Kristalle wachsen lassen kann.

„Es gibt einen uralten Zwergenweg, den wir lange nicht benutzt haben und den die Olche nicht kennen!“ wisperte das Zwergenweiblein. „Er geht tief unter der Erde vom Flussufer bis zu dem alten Gewölbe, wo sich jetzt die Olche treffen. Alle Zwerge sind dabei, den Weg freizumachen. Sie werden mit ihren Laternen auf Euch warten. Die Laternen werden sie erst anzünden, wenn Ihr das Zeichen gebt.“ Damit eilte sie davon.

Die Zwölfte gab Leon und dem braunen Elf, den sie Orbo nannte, die Leuchtkristalle und zwölf Krumen von dem Sonnenbrot, und schon kamen Uhu und Waldkauz, nahmen die beiden auf den Rücken und flogen zu dem ersten Olchsversteck. Neben der großen Buche, genau da, wo die Wege sich kreuzten, steckte Orbo, der einmal ein Olch gewesen war, seinen Kristall in die Erde und einer der Füchse, die da, wo die Olchswachen in der Erde saßen, schon warteten, scharrte nun den Boden auf. Und da saß der schwarze Olch, vom Licht des Kristalls gelähmt. Orbo steckte ihm eine Goldkrume ins Maul, das ein wenig offenstand, und dann konnte er mit ansehen, wie sich der Olch mit einem schrecklichen Schrei aufblähte und schließlich platzte,