Märchen

Leon, dem gerade vor Schmerzen die Luft wegblieb, war außerdem so überrascht, daß er nicht einmal „au“ sagte. Er hatte sich schon manchmal gestoßen, hatte mit Zwergen, die sehr stark und nicht immer freundlich sind, gerauft und blaue Flecken bekommen, aber das war nichts im Vergleich mit dem Schmerz, der jetzt in seinem Fuß war; dem Fuß, eingeklemmt in einer Erdspalte, die fast aussah, wie der Mund von einem schwarzen Olch.

Und wenn das keine Erdspalte war, sondern ein Olchsmaul, dann konnte ihm jetzt nur ein Mondstrahl helfen, denn Mondlicht lähmt die Olche, wie alles Licht, weshalb sie in der Erde wohnen und nur manchmal hervorkommen, wenn gerade alles dunkel ist.

Und gerade da segelte die kleine schwarze Wolke weiter, Leon konnte einen Mondstrahl fangen, ihn in das Loch stecken und seinen Fuß mit einem Ruck befreien. Aber wie sah der aus! Die Elfenkinder, die gerade noch durcheinandergerollt waren, hörten auf zu kichern, Lia vergaß, daß sie ganz nass war und aussah, wie graue Wolle ( sie war eine etwas eitle Elfe, die sich gerne im Wasserspiegel betrachtete ), der Oberelf ruderte mit den Armen durch die Luft und fand dann die Sprache wieder, wenn ihm auch nichts besseres einfiel als zu fragen: „Dir ist doch nichts passiert?“ Leon, der sich ein paar Tränen abschüttelte (Elfentränen sind wie ganz zarte, kleine Perlen) , Leon versuchte aufzustehen, aber er setzte sich gleich wieder hin, diesmal aber auf einen Pilz, der dort gewachsen war, wo die Elfen vorher getanzt hatten. “ Doch!“ sagte er nur und besah sich seinen Fuß, der, sonst zart und weiß wie Elfenbein, nun dick und krumm und fast so blau war wie sein Haar. Die Elfe Lia Federhaar, die man jetzt gerade Wollhaar hätte nennen müssen, fragte nicht lange, sondern füllte eine hohle Eichel mit Tau, in den sie ein wenig Schmetterlingsflügelstaub, Arnikablütenpulver und Kristallpuder gemischt hatte, Arzeneien, die die Tauelfe Lia aus einem Silberbeutelchen, das ihr an der Seite hing, mit ihren zarten, goldenen Fingern hervorholte.

Goldene Hände sind selbst bei Elfen sehr selten, bei den Menschen findet man sie gar nicht mehr. Oder wir haben vielleicht nicht mehr die Augen, sie zu sehen. Goldene Hände haben die wunderbare Eigenschaft, welches Wesen sie auch berühren, froh zu machen. Sie heilen die Schmerzen der Seele und oft auch die des Körpers. Wenn eine Tauelfe mit goldenen Händen die Tropfen an Blumen, Büsche, Bäume, ja sogar Bänke hängt, fangen die an zu duften und zu leuchten, und auf die Bänke setzen sich die Liebespaare, junge und alte, besonders gern. Die Kinder, die durch die Büsche streifen und dabei ein wenig nass werden, fangen an zu singen und bekommen rote Backen, und wer einen solchen Tautropfen trinkt, der wird fröhlich. Dieser Tau ist übrigens das Lieblingsgetränk der Schmetterlinge, die ganz genau unterscheiden können, ob es sich um normalen oder goldenen Tau handelt.

Lia trug also mit ihren goldenen Händen die hohle Eichel zu dem fremden blauhaarigen Elf, der da plötzlich vom Himmel gefallen war, nahm vorsichtig den verletzten Fuß und steckte ihn in die Eichel mit dem Heiltau. Leon fühlte sich gleich wieder besser, er vergaß seine Schmerzen und mußte lachen, denn er erinnerte sich jetzt an das erstaunte Gesicht des Oberelfs und wie der – platsch – den Tautropfen auf das Federhaar der goldhändigen Elfe hatte fallen lassen, sodaß ihr die Haare jetzt wie graue Wolle um den Kopf lagen. Alle Elfen drumherum fingen auch wieder an zu lachen, bis auf den Oberelf, der in den 1327 Jahren, die er nun Oberelf war, so manches gesehen hatte. Er wußte, wer ihm da mitten in den Reigen geplumpst war, denn die Blauelfen waren berühmt und vornehm, und Elfenkönig konnte nur ein Blauelf werden. Der Oberelf nahm sich also zusammen, verneigte sich und wollte gerade zu einer großen Begrüßungsrede ansetzen, als Leon sagte: „Gute Nacht!“ ( Elfen sagen natürlich nicht „Guten Tag“, denn es sind ja Nachtwesen )

„Ich bin Leon, ein Wanderelf. Aber mit dem Wandern scheint es vorerst vorbei zu sein.“ Damit zog er seinen Fuß, den Linken, aus der hohlen Eichel und sah ihn sich an. Und wenn er noch gezweifelt hatte, ob er mit dem Fuß in ein Olchsmaul, oder in eine Erdspalte geraten war, so war nun kein Zweifel mehr möglich. Zwar hatte der Heiltau soweit geholfen, daß der Fuß nicht mehr krumm, dick und blau war, er war wieder zart und gerade, aber da, wo die Olchskiefer zugeschnappt hatten, war er ganz schwarz, und wo die Olchszähne die Haut durchbohrt hatten, waren hässliche, schwarze Löcher.

Nun weiß jeder Elf, daß Olchswunden, wenn sie nicht schnell geheilt werden, sich ausbreiten. Erst schwärzt sich die ganze Haut um die Wunde herum, die sich bald schließt und ihre bösen Säfte nun durch den ganzen Elfenkörper schickt. Der Bauch bläht sich auf. Die zarten Gliedmaßen werden plump, schwarz und dick. Zum Schluß verändert sich der Kopf. Der Mund zieht sich in die Breite. Scharfe, schwarze Zähne wachsen. Die Haare fallen aus. Und schließlich vertragen die Augen kein Licht mehr, und der arme Olch-Elf muß sich unter die Erde verkriechen. Und da kein Licht mehr ins Herz fällt, wird auch das langsam schwarz. Und wenn das Herz ganz schwarz ist, ist aus dem Elf ein Olch geworden. Ein böser Olch. Diese Verwandlung endet mit dem nächsten Vollmond. Nun weißt du, wie lange Zeit dem armen Leon bleibt.

Aber Leon war weder erschrocken noch traurig, und das kam sicher daher, daß Lia mit den goldenen Händen und dem nassen Federhaar, das langsam trocknete und sich wieder aufstellte, nun seine Hand hielt. Die anderen Elfen sahen erschrocken nach dem Himmel, aber da war keine Wolke mehr weit und breit, der olchlähmende Vollmond stand freundlich am Himmel. – Seit Elfengedenken war kein Olch mehr gesehen worden, und die Elfenkinder hatten heimlich gedacht, Olche gehörten in die Sagenwelt (wie feuerspeiende Drachen), wenn die Oberelfen sie ermahnt hatten, vorsichtig zu sein und nie ohne ein kleines Licht in dunkle Höhlen zu kriechen. Die Zwerge haben auch immer ihre Laternen dabei, wenn sie in ihre Bergwerke steigen, um Erze und Edelsteine aus dem Fels zu schlagen. Und nicht nur, weil es da unten dunkel ist .

Nun riefen die Elfen nach den Leuchtkäfern und Glühwürmchen, denn mit Tanz und Tau war’s nichts mehr, und der Oberelf, dessen Flügel erregt flatterten, scheuchte sie alle davon und ermahnte sie, nach Hause zu eilen, und nicht etwa mit nächtlichen Wanderern Schabernack zu treiben, seien es Igel, Mäuse, Füchse, Katzen oder Menschen.

Elfen haben wunderbare Wohnungen. Manche wohnen in einer Blume, andere in hohlen Bäumen, wieder andere in herrlichen Seidenzelten, die sie immer da aufschlagen, wo es ihnen am besten gefällt. Sie haben Hängematten aus feinsten Goldfäden, die sie in die Büsche hängen, wo sie sich vom Wind schaukeln lassen, im Herbst suchen sie sich manchmal eine Wohnung in einem Apfel oder einer Nuss, sie leben zuweilen in verlassenen Schneckenhäusern oder Vogelnestern, in Kinderzimmerlampen, Geigen, Muscheln, Glaskugeln, Uhren und bleiben da, solange sie mögen. Aber natürlich hat jede Familie – und Elfenfamilien sind oft sehr groß – ein Heim zum Ausruhen im Winter, bei Sturm, Regen und Tag. Da gibt es wahre Paläste in den Felsen, die da so grau und unscheinbar im Wald liegen und deren Türen Menschenaugen nicht erkennen können. In beinahe jeder alten Eiche, Buche oder Linde ist eine große Elfenwohnung, mancher Grashügel verbirgt ein Elfenschloss, und hinter den meisten Wasserfällen kannst du Elfenlichter glitzern sehen. Und zu diesen Wohnungen eilten nun die Elfenkinder, um von dem Olch zu erzählen und was dem Blauelfen geschehen war.

Der Oberelf war inzwischen zu einer Windharfe gegangen und spielte darauf eine Melodie, die die Winde weitertrugen zu allen Elfen in Stadt und Land. Und alle Elfen, die sie hörten, wussten nun von dem Unglück, und wer immer ein Mittel gegen den Olchsbiß kannte, würde gleich eine Nachricht zu der Insel im Maunzenweiher schicken. Eine Eule, die alles beobachtet hatte, schwang sich lautlos auf. Ihr trauriger Ruf schreckte die Nachttiere auf, Blumen, Büsche und Bäume wiegten sich im Wind und ließen Blätter fallen, als weinten sie, die ganze Natur schien zu trauern um den Elfenprinzen Leon, der beim nächsten Vollmond ein Olch sein würde.

Aber Leon, der Blaulockige, der Tapfere, der Olchgebissene, lächelte und sagte: „Danke, du Goldhändige“, denn er kannte den Namen der Elfe mit dem (nun wieder trockenen) Federhaar ja noch nicht – „ein ganzer Mond! Viel Zeit, um ein Mittel gegen die Olchskrankheit zu finden. Wenn ich nur wüsste, wo ich suchen soll.“ Der Oberelf kam mit hängenden Flügeln herbei: „Lia, geh heim! Hier kannst du nicht mehr helfen, und gleich werden sich die Ältesten versammeln, um Rat zu halten. Dabei hast du nichts zu suchen.“ Aber Prinz Leon ließ Lias goldene Hand nicht los. „Wohnst du weit von hier, Lia Federhaar?“ „Wenn du mich brauchst, in der alten Buche am Kreuzweg bin ich zu finden.“ Und Lia nahm aus ihrem silbernen Beutelchen ein Tuch, das war aus Spinnweben so fein gewebt, daß es aussah, wie ein Nebelschleier, sie faltete es auseinander, es wurde immer größer, hüllte sie ganz ein, ein kleiner Nachtwind hob sie auf und trug sie, ein Nebelwölkchen nun, durch die Dunkelheit davon.