Märchen

Leon, der Mondstrahlrutscher und Lia mit den goldenen Händen

Mein lieber Leonard,

Da liege ich, die jetzt eigentlich auf der Bühne im Theater herumtanzen sollte, mit einem gebrochenen Fuß auf dem Sofa und bin traurig, weil es vorerst mit dem Herumtanzen nichts mehr ist. Aber wenn ich an die Geschichte von dem kleinen Elfen Leon denke, vergesse ich meine Schmerzen, denn für einen Elfen ist das ja noch viel schlimmer, wenn er nicht mehr tanzen und springen kann. Du kennst die Geschichte von Leon noch gar nicht? Dann will ich sie Dir erzählen. Ich habe ja jetzt viel Zeit hier auf meinem Sofa mit meinem Gipsbein. Also:

Der Elf Leon, der schon viel von der Welt gesehen hat, denn er ist immerhin 269 Jahre alt (aber immer noch ein ganz junger Elf, wenn man bedenkt, wie alt Elfen werden können), also: der Elf Leon war an einem Abend, als der Vollmond am Himmel stand, plötzlich auf der kleinen Insel im Maunzenweiher aufgetaucht. Der Maunzenweiheroberelf, der gerade den ganz jungen Elfen zeigte, wie man den Reigen tanzt und den etwas älteren, wie man die Tautropfen an die Gräser hängt, war erstaunt, denn schon lange war kein fremder Elf mehr in die Wälder um Frankfurt gekommen.

Frankfurt ist eine große Stadt mit enorm hohen Häusern, von denen manche höher sind als die Wolken, und die Nebelelfen, die sich manchmal von den Wolken mitnehmen lassen, könnten Dir da einiges erzählen! Jedenfalls ist Frankfurt, wenn es auch an einem Fluß liegt, dem Main, nicht gerade sehr anziehend für Elfen, die Blumen, Wälder, klare Quellen, die Tiere und die freie Natur lieben, sodaß die Elfen im Stadtwald von Frankfurt nicht eben oft Besuch von außerhalb bekommen.

Der Oberelf, der ein bisschen dick war und eher einem Nachtfalter ähnelte mit seinem runden Kahlkopf und den gefleckten, braungrauen Flügeln, die ihm tatsächlich ein Nachtfalter geschenkt hatte, der Oberelf ließ den Tautropfen, den er gerade gefasst hatte, platsch – die Elfe Lia wurde nass von Kopf bis Fuß – vor Überraschung fallen, alle Elfen kicherten, lachten, sie schlugen Purzelbäume vor Vergnügen, sprangen hoch in die Luft und zappelten mit den Füßen, wälzten sich im Gras, hüpften auf einem Bein, drehten sich wie Spindeln, tanzten wild herum,es war ein Elfenlärm! Und lustig anzuschauen, denn nicht alle Elfen sind so schön und fein wie Leon mit seinen langen blauen Locken oder Lia, die fast durchsichtig war und deren weiße Haare normalerweise wie ein ganz zarter, weißer Federbusch um ihren Kopf standen (jetzt lagen sie wie hellgraue, nasse Wolle um ihr Gesicht, aber sie war immer noch hübsch, jedenfalls hübsch nass).

Es gibt ja Elfen an allen möglichen und manchmal auch beinahe unmöglichen Orten, und man bekommt sie so selten zu sehen, weil sie mit der Zeit den Wesen oder Dingen, um die sie sich kümmern, immer ähnlicher werden. Da gibt es Gartenelfen, die fast aussehen wie eine Bohne oder ein Kieselstein, eine Erdbeere, eine grüne Raupe, ein Kürbis oder ein Blütenblatt, Waldelfen, die Spinnweben, Farnen, Eicheln oder Bucheckern gleichen, solche, die Pilzhüte tragen, Fliegenflügel oder einen gelbbraunen Bienenpelz. Wenn Du ein Wollgrasflöckchen über eine Wiese fliegen siehst, könnte das immer eine Elfe sein, denn obwohl Elfen Nachtwesen sind, trägt sie der Wind manchmal am Tag mit sich fort, wenn sie ganz fest schlafen. Und wenn sie dann am Abend aufwachen, sind sie sehr erstaunt und können sich gar nicht erinnern, wie sie an diesen fremden Ort gekommen sind.

Aber der Wind ist ein Elfenfreund, der sich nur manchmal einen kleinen Spaß erlaubt. Wenn sich die Elfen die Augen reiben und gerade ein bisschen ängstlich werden, lacht er leise, hebt sie auf und trägt sie sanft zurück.

Auf der kleinen Insel im Maunzenweiher im Frankfurter Stadtwald hatte also der dicke Oberelf vor Überraschung gerade den Tautropfen auf den Kopf der Elfe Lia fallen lassen, platsch, weil der blaulockige Leon plötzlich auf einem Mondstrahl angerutscht kam und fast auf seinem Kopf gelandet wäre.

Mondstrahlrutschen ist für Elfen so ähnlich wie für Kinder Treppengeländerrutschen.

Leon hatte sich, als er am Ende seiner Reise angelangt war – eigentlich hatte er kein bestimmtes Ziel, aber vom Ufer des Weihers aus hatte er einen weißen Federhaarschopf gesehen und beschlossen, dazubleiben – Leon hatte sich an einem kräftigen Spinnwebfaden auf die nächste Buche geschwungen, sich rittlings auf einen Mondstrahl gesetzt, der mitten im Tanzkreis endete und war losgesaust. Der Mondstrahl war besonders glatt, sein Hosenboden vom vielen Rutschen auch (Mondstrahlrutschen war sein Lieblingssport), außerdem waren die Hosen aus Bienenwachs gefertigt – Du weißt ja, daß man auf frischgewachsten Böden fast so gut schlittern kann, wie auf Eis – also, Leon bekam einen ungeheuren Schwung. Als erfahrener Mondstrahlrutscher hätte er natürlich rechtzeitig abgebremst, aber gerade als er bremsen wollte, ein paar Meter über der Insel im Maunzenweiher, wo der kahlköpfige Oberelf Elfenschule hielt, gerade da schob sich eine schwarze Wolke vor den Mond. Der Mondstrahl verschwand, Leon fiel, plumps, fast auf den Oberelf, der, platsch, seinen Tautropfen auf die Elfe Lia mit dem Federhaar fallen ließ, woraufhin alle Elfen in Gelächter ausbrachen.

Und was war mit Leon, dem blauhaarigen Mondstrahlrutscher? Leon mit der Blütenstaubjacke und der Bienenwachshose? Leon, dem Wanderelf, der vom Blautopf bis zum Maunzenweiher im Frankfurter Stadtwald gekommen war? Leon, dem Sucher, der einen weißen Federhaarbusch gesehen hatte (der jetzt freilich wie graue Wolle aussah)? Leon, dem Elfenprinzen, denn das war er!?
Leon lachte nicht. Er wollte aufstehen und konnte nicht. Sein einer Fuß war in eine Erdspalte geraten und steckte fest – und nicht nur das. Er tat so weh, daß Leon die Luft wegblieb.

Elfen kennen keine Krankheiten, wie wir. Natürlich werden sie schwach und immer durchsichtiger und lösen sich schließlich ganz auf, wenn die Menschen gar nicht mehr an sie denken. Und jedesmal, wenn ein Erwachsener sagt: „Elfen sind Quatsch!“ oder etwas Ähnliches, vergeht ein Elf. Aber da immer ein Elfenkind entsteht, wenn ein Menschenkind zum ersten Mal lacht, werden wir wohl immer genug Elfen haben. Und Du wirst ja wohl nie zu den Elfenquatsch-Erwachsenen gehören, denn Du weißt es besser und wirst es nicht vergessen.